Hamburg im Oktober 2015
Wenn ich einen Satz aus unserem Interview herausstellen sollte, weil er Sarah besonders gut charakterisiert, wäre es wohl dieser:
„Ich habe beschlossen, ich bleibe 30! Das Alter in meinem Ausweis ist eine gewürfelte Zahl, die nichts mit mir zu tun hat. Am liebsten umgebe ich mich mit Menschen, die genauso denken. Vor kurzem war ich auf dem 50. Geburtstag eines Freundes. Wir haben Topfschlagen gespielt. In 10 Jahren wird’s dann Flaschendrehen.“
Sarah lebt im Elsaß. Die Reise nach Hamburg machte sie für „Max ist Marie“.
Vor einer Stunde betrat Sarah das Café Hadley’s in Hamburg mit einem „Sag mal, die Parkplatzsituation in Hamburg lässt aber auch Raum für Verbesserung“, legte ihren Mantel ab, „noch schnell aufhübschen“ und schon konnte es losgehen.
Sarah erzählt von ihren Eltern in Lübeck bei denen sie heute morgen noch zum Frühstück war. „Meine Eltern sind wie gemacht für eine transidente Tochter. Sie waren von Anfang an bei mir, als ich mich auf den Weg machte.“
Sarahs Vater ist evangelischer Pastor, „weltoffen“, Ihre Mutter Therapeutin. „Die Frau ist der Hammer. Sie kann ganz locker von der Therapeutenrolle in die Mutterrolle switchen und umgekehrt. Die Therapiesitzungen mit ihr und ihre Symbolarbeit haben mir viel Kraft gegeben.“
Die Methode, die ihre Mutter anwendet, beschreibt Sarah als einen Ansatz, bei dem mit inneren Bildern gearbeitet wird : „Ein schönes Bild ist das von einem Strandball. In den stellst Du Dich rein, kannst alles beobachten, und was nicht zu Dir kommen soll, prallt einfach ab.“
Wir bestellen etwas zu essen, danach möchten wir raus in die Sonne. Unsere Gespräche drehen sich um dies und das; darum, zum Beispiel, dass Sarah auch einmal überlegt hatte, Fotografie zu studieren, dass sie früher Stunden in der Dunkelkammer der Gemeinde zugerbacht hatte. Dann wird Sarah ernst.
Urlaub im Sommer 2010. Mit ihrer Partnerin, die damals hochschwanger war, verbrachte sie einige Tage in La Rochelle.
Eine Kleinigkeit brachte alles ins Wanken: Sarah hatte Ihren Rasierapparat zuhause vergessen. „Nass rasieren ging damals nicht, weil ich Neurodermitis hatte. Über die Qual, die es mir bereitete mit Bart durch die Tage zu gehen, war ich selber erschrocken! Da wurde mir endgültig klar, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist.“
Die endgültige Erkenntnis kam nach dem Urlaub.
Sarah war wie geplant vorher abgereist, weil sie wieder arbeiten musste. So hatte sie einige Tage alleine zu Hause, die ihr halfen, bei sich anzukommen: „Mir war klar, dass ich mich JETZT mit meiner weiblichen Seite aktiv auseinandersetzen musste. Die Zeit habe ich genutzt, um ein wenig mit dieser Rolle zu experimentieren.
Als mir klar wurde, was da los war, rief ich sofort meine Schwester an, dann meine Eltern: „Ich weiß nicht, wohin die Reise geht. Aber etwas ganz Grundlegendes wird sich verändern.““
Einige Wochen später kam Ihre Partnerin aus dem Urlaub nach Hause.
„Eigentlich wollte ich sie erst nach der Geburt unseres Kindes einweihen; sie sollte die Schwangerschaft genießen können. Außerdem wusste ich ja selber noch nicht so richtig, in welche Richtung das gehen sollte. Aber ich hatte nicht aufgepasst beim Aufräumen.“
Ihre Frau fand einen BH, stellte Sarah zur Rede, wollte wissen ob sie eine Affäre habe. „Nein“, sagte Sarah, „das ist meiner!“
Von da an ging Sarah ihren Weg weiter: „Schritt für Schritt habe ich für mich weiter geklärt, was eigentlich los ist. Ich habe eine Therapie gemacht, viel gelesen. Ich brauchte Zeit, um mit mir selber mitzukommen.“
Vom Hadleys fahren wir in die nahe gelegene Sternschanze; Sarah möchte noch ein wenig von Hamburg sehen. Während wir durch die Straßen schlendern, erzählt sie weiter:
Bis 2012 lebte sie noch mit Ihrer Partnerin und den gemeinsamen Kindern weiter zusammen.
Während einer schweren Krise brachte ein Termin bei der Logopädin die Wende: „Die hat mich zu meinen Eltern geschickt. Es ging wirklich gar nichts mehr. Ich musste dringend Abstand haben.“
Die Beziehung zerbrach. „Nach zehn gemeinsamen Jahren. Das war der Preis. Es war für beide von uns zum Schluss dramatisch, aber eine Alternative gab es nicht. Irgendwann hat sie mich vor die Wahl gestellt: ich sollte den Daddy spielen oder ausziehen. Da konnte ich nicht länger bleiben. Es war und ist der Weg, den ich gehen muss.“
Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „Dennoch: Die Transition ist das beste, was mir in meinem Leben passiert ist und ich bin jeden Tag dankbar dafür.“
Heute haben Sarah und ihre Partnerin wieder „guten Kontakt“.
Ihre Kinder, jetzt siebeneinhalb und fast fünf, sieht Sarah nur noch alle zwei Wochen. „Manchmal sind die Treffen, oder vielmehr die Abschiede, schon sehr schwer für mich.“
Für die Kleinen ging Sarah bei ihrer Transition behutsam vor. „Ich habe es einfach gemacht, nicht darüber geredet. Äußerlich habe ich mich nur langsam verändert.
Meine Kinder haben mich schon immer mit dem Vornamen angeredet. Irgendwann wurde ich eben Sarah. Das schien Ihnen keine Probleme zu machen. Mir ist aber klar, dass sie einen Mann in der Erziehung brauchen. Deshalb fülle ich manchmal noch ganz bewusst die Papa-Rolle aus. Da kann ich gerade eben noch ganz kuschelig gewesen sein; wenn es nötig wird, bin ich spontan streng wie früher. Ich muss das tun für meine Kinder.“
Bis zur Trennung lebte Sarah mit ihrer Partnerin und ihren Kindern acht Jahre lang in Straßburg. Als sie auszog, blieb sie im Elsass, zog in einen kleineren Ort, der näher an ihrem Arbeitsplatz liegt: jeden Morgen pendelt sie nach Karlsruhe, wo sie für eine Firma arbeitet, in der sie die Hard – und Software für Laserbeschriftungssysteme entwickelt.
Elektronik interessierte Sara schon immer: „Mit drei Jahren steckte ich den Finger in eine Steckdose. Mit fünf Jahren baute ich ein Transistorradio auseinander. Ich wollte unbedingt herausfinden, wie so etwas funktioniert.“
In diese Richtung sollte es beruflich gehen: Zunächst machte Sarah eine Ausbildung zur Industrieelektronikerin. „Nach der Ausbildung bin ich dann aber erst einmal einen Monat in Indien unterwegs gewesen. Ich musste weg aus der Industrie! Das Umfeld war gar nichts für mich.“
Während ihrer Zeit in Indien erkannte sie, wie sehr sie Zusammenhänge in der Gesellschaft interessieren. Zu erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ (Goethe) ist da ein starker Antrieb gewesen.“
Nach ihrer Reise schrieb sie sich für Sozialwissenschaften in Wuppertal ein.
„Vier Semester habe ich das durchgehalten. Leider ist die Form des Studiums überhaupt nicht meine Art und Weise zu Lernen und in Soziologie bin ich regelmäßig eingeschlafen.“
Im Rahmen eines Studentenjobs kam Sarah in ihre jetzige Firma. „Seit 13 Jahren bin ich dort jetzt und fühle mich immer noch wohl. Mein Wechsel zu Sarah war dort überhaupt kein Problem. Und fachlich werde ich gefördert.“
Vor drei Jahren nahm Sarah zum ersten Mal am Chaos Communication Congress teil. „Das war wahnsinnig spannend! Ich war schwer beeindruckt. Damals nahm ich mir vor, beim nächsten Mal nicht irgendein blöder Kongress-Konsument zu sein, sondern etwas beizutragen, mein Teil dieser wunderbaren Gemeinschaft zu sein.“
Letztes Jahr war es soweit: Sarah hielt einen Vortrag über Laser Sicherheit vor 2000 Leuten.
„Ich war wirklich null aufgeregt, hab mich einfach nur megamäßig darauf gefreut. Ich bin eine echte Rampensau.“
Die Entstehung des Porträts über Sarah wurde vom WDR in einem Beitrag über „Max ist Marie“ gefilmt.
Danke an Tim Lienhard und sein Kamerateam. Danke an den WDR!
Danke auch an Tina Heine vom Café Hadleys und an das Team von der Marsbar für die Unterstützung!
Making of:
Yay, klasse !!!!!!!!!
Das war ein großartiger Tag mit dir und dem Team!!!
Danke.
🙂 Sarah
Man kann den Machern dieses Projekts insgesant nur gratulieren, weil hier Authentizität bewerkstelligt wurde. Weiß ich.
Lieben Gruß
Dany
Vielen Dank für diesen authentischen und vor Allem positiven Blick … zu oft wird problematisiert, wo auch das Schöne und Zufriedene gezeigt werden sollte.
Danke !!
wunderschöner Bericht, klingt so klar und beruhigend natürlich.
Freu mich, mehr zu hören
und zu sehen
Gruß
Erich Conradi
KneippFestival MAlente
Großartiges Portrait einer wunderbaren Frau.
Das ganze Projekt berührt mich sehr und ich wünsche ihm viel viel Publikum, das sich von den Geschichten dieser starken und beeindruckenden Menschen berühren läßt.
Tanja
Das Ganze ist so berührend und hoffnungmachend. Die Problematik wird so einfühlsam erzählt und mit einer Unaufgeregtheit behandelt, da kann kein noch so seriös gemeinter Artikel der Printmedien auch nur annähernd mithalten. Es ist ganz wichtig, daß das Thema TI endlich aus den Negativschlagzeilen herauskommt. Und da ist dieses Projekt gerade richtig.
Da kann man nur Danke sagen.
Liebe Grüße
Johanna