Berlin, im September 2014
Nun also Berlin. Mit Marie. Die ersten Interviews, bei denen auch sie mit dabei sein würde.
Nach dreieinhalb Stunden Fahrt mit vielen Staus sind wir da. Und warten auf Xenia. In ihrer Wohnung wollte sich Xenia nicht fotografieren lassen – denn sie ist der persönliche Zufluchtsort von ihr und ihrer Ehefrau. Deshalb treffen wir uns vor ihrem Haus. Und da kommt sie auch schon – frisch geschminkt – aus der Tür: Schicke schwarze Haare, kurzer Pony.
„Übrigens nicht erschrecken – ich habe mir vor ca. eineinhalb Monaten die Haare geschnitten und trage seitdem eine Kurzhaarfrisur!!! 😉 *GRINS*
Das könnte für DICH als Fotografin aber DEFINITIV VON VORTEIL SEIN – weil dadurch meine besonderen Gesichtszüge und ganz markanten Augen besonders gut zur Geltung kommen.“, so hatte Xenia in einer ihrer Mails geschrieben. Ich bin begeistert. Wie sie mich anschaut aus ihren dunklen schönen Augen.
Leggings trägt sie, dazu einen pinken Pulli, der ihr hervorragend steht: „Leggings liebe ich seit meinem siebten Lebensjahr. Schon in der Grundschule hatte ich die immer beim Sportunterricht an. Wenn wir auf der Bank saßen, platzierte ich mich immer zwischen Jungs und Mädchen… Zu den Jungs wollte ich nicht gehören, zu den Mädchen durfte ich nicht gehören… Eines der Mädchen hatte immer pinke Leggings an, die ich traumhaft schön fand… Pink ging für mich zum damaligen Zeitpunkt in der optisch männlichen Rolle leider nicht – weshalb ich Tarnfarben benutzte, weißt Du, so ein pastellfarbenes Dschungelmuster im Stil von Scout-Schulranzen… Ich gebe zu, dass das sicherlich etwas auffällig war – aber es war mir egal… Diese Leggings schaffte es, etwas in mir zum Vorschein zu bringen. Etwas, das mit meiner gesellschaftlichen Rolle schlichtweg nicht zusammenpasste. Ich hatte sie deshalb immer geliebt… Aus heutiger Sicht weiß ich, dass ich auf diese Weise – durch das Tragen meiner Leggings – meine innerste weibliche Seele zum allerersten Mal in meinem Leben wirklich offen zeigen konnte!“
Auf Xenias Straße sind wir ein Stück weiter vor gefahren. Zwischen Plattenbauten eine kleine Grünfläche mit Weiden und Ähren. Es durftet nach Getreide: „Das ist eine Brachfläche aus DDR Zeiten, da wurde nie etwas geändert. Hier bist du im tiefsten Osten!“
Zwei Sachen, die ihr wichtig sind, hat Xenia mitgebracht: ihren Hut „Hüte stehen mir einfach hammermäßig gut.“ und ein kleines Kuscheltier: „Ein Känguruh“, das sie in ihrer Handtasche als Glücksbringer immer bei sich hat. „Zuhause habe ich so eines noch in groß sitzen, aber das passt nicht in die Tasche.“
Vergeblich suchen wir eine Bank, auf die wir uns setzen können. Also machen wir es uns auf der Ladefläche des Autos bequem. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal in einem Plattenbau leben würde. Und jetzt will ich hier nicht mehr weg. Wir leben zentral, mit guter Anbindung, haben ein bisschen Anonymität, aber nicht zu viel – und unsere Nachbarschaft ist auf unserer Seite der Bahnlinie absolut in Ordnung!“
Wie ging das weiter? Damals während der Schulzeit? „Jungs haben mich als Spielgefährten nie interessiert. Das war halt so, Gedanken hatte ich mir darüber nie gemacht…“
Modezeitschriften hat sich Xenia schon in ihrer Jugend gerne angesehen. Irgendwann merkte sie, dass sie die Männerseiten nur überblätterte – und sich nur die Frauenseiten ansah. Nur die Damenmode interessierte sie: „Ich hatte mich sehr darüber gewundert – und konnte es mir einfach nicht erklären…“
Das war in ihrer Pubertät. Heute ist Xenia 29.
Sie hat viel durchgemacht bis zu dem Tag, an dem sie erkannte, was mit ihr los ist.
Zwei schwere Depressionen musste sie durchleben.
„Ich wollte Erfolg im Beruf, richtig durchstarten. Aber mich wollte keiner… Die haben alle gemerkt, dass mit mir irgendetwas nicht stimmte. Ich war ja nicht ich, verstellt, unsicher…“
In dieser Zeit wurde ich die perfekte Zielscheibe. Sobald ich irgendwo auftauchte, ging es los. Man steckte mich in unmenschliche Schubladen…“
Xenia fiel in einen Strudel, der sie mit sich riss: „Ich dachte, jeder würde mich hassen. Oder nicht ernst nehmen!“ Ihre Umwelt konnte Xenia deshalb nicht mehr wahrnehmen. Da war nur noch schwarz.
Wegen „schwerer Depression und seelischer Vereinsamung“ wird Xenia schließlich in eine psychosomatische Klinik eingewiesen. Danach geht es ihr zwar besser, „aber ich wusste noch immer nicht so richtig, was mit mir los war. Ich suchte noch immer den Schlüssel, um mein eigenes, komisches Leben wirklich zu verstehen!“
Eines Morgens im Frühjahr 2010. Xenia steht im Bad vor dem Spiegel – und beschließt, etwas zu ändern. Die Barthaare mussten unbedingt weg. „Ich war völlig verzweifelt, habe mir eine Pinzette genommen – und jedes einzelne Härchen ganz einfach rausgerissen… Einfach so… Das hatte mir zwar den Unterkiefer vor Schmerzen leicht verzogen – aber diese Schmerzen waren mir egal… Lediglich zwei Tage habe ich dafür gebraucht.“
In ihrer Verzweiflung sucht Xenia im Internet nach Methoden der professionellen Barthaarentfernung und stößt dabei rein zufällig auf eine Seite, auf der transidente Verhaltensmuster detailliert beschrieben werden. Dieser Moment markiert Xenias erste Begegnung mit ihrer eigenen Wahrheit: „Das war, als wenn jemand mit dem Finger schnippt und plötzlich geht das Licht an… Da fiel ein gigantischer Felsbrocken von mir ab!“
Wir gehen hinüber zu einem anderen Grünstreifen in unmittelbarer Nähe, um noch ein paar Fotos zu machen. Diese Augen! „Ja, hab ich Dir doch gesagt: ich habe echt geile Augen!“
Jetzt, da Xenia endlich auch optisch Xenia ist, liebt sie es, sich mit Perfektion zu schminken. Über das Schminken hat sie sich imlaufe ihrer Transition alles selbst beigebracht: „Nicht einmal einen Schminkkurs habe ich besucht. Am Anfang habe ich noch verrücktere Sachen ausprobiert. Aber spätestens nach zwei Jahren wusste ich dann, wie ich mich schminken muss, um das Schöne an mir selbst besonders gut betonen zu können.
Im Jahr 2012 hatte ich einmal eine Kombipackung Eyeshadow mit vier Farben. Eine davon war neongrün. Damit hab ich mir leidenschaftlich gerne die Augenbrauen geschminkt. Und es hat mir gut gestanden! Grüne Augenbrauen – wodurch ich wie die DJane Marusha aussah, die in den frühen 90er Jahren meine absolute Lieblingsmusik Techno im Osten bekannt gemacht hatte… Passt doch!“
Jener hochqualitative, frühe Techno, den Xenia über alles liebt, steht wie nichts anderes für eigenen inneren Aufbruch. Dieser Aufbruch spielt nicht nur in ihrem Leben eine überaus wichtige Rolle, er hat sie selbst sogar zu einer hobbymäßigen Technoproduzentin und leidenschaftlichen Raverin werden lassen.
Xenia hat eine Ausbildung zur Musik- und Sounddesignerin im Popcollege in Fellbach bei Stuttgart gemacht. Heute ist ihre Leidenschaft Musik eines ihrer größten Hobbys: „Mein Ziel ist, mit Hilfe des Projektes „Non Drugger Techno – The Sound Of Berlin“ die Musikrichtung „Techno“ aus der gesellschaftlichen Schieflage rauszuholen. Und den Menschen zu zeigen, dass der ursprüngliche Grundgedanke von Techno mit Drogen überhaupt nichts zu tun hatte. Meine großen musikalischen Vorbilder sind insbesondere aus den 70er und 80er Jahren: Kraftwerk, Underground Resistance.“
Heute setzt Xenia sich dafür ein, dass man sich als Mitglied ihrer Technoform – als „Non Drugger“ – für eine bessere Welt engagiert: „Durch gutes soziales Verhalten, wie zum Beispiel die gesellschaftliche Anerkennung von transidenten Menschen, kann jeder Einzelne für mehr Wärme innerhalb dieser Gesellschaft sorgen!“
Eine weitere Leidenschaft hat Xenia: das Schreiben. Sie schreibt seit ihrer Kindheit und arbeitet jetzt an ihrem ersten eigenen Buch, einem Krimi.
„Ich habe in der Vergangenheit immer wieder Kleineres für mich selbst geschrieben. Diesmal allerdings ist mir aus einem einfachen Gedanken, den ich lediglich aus Jux und Tollerei bekommen habe, doch tatsächlich MEIN ERSTES BUCH entstanden!!! 😀 Dieses Buch wurde von mir von Januar 2014 bis Juli 2014 geschrieben – und umfasst bislang ohne fertiggestellter Nachkorrektur satte 306 SEITEN!!! 😀 * So erzählte Xenia mir in einer ihrer Mails vor unserem Treffen.
Xenia träumt davon, als Autorin ihr eigenes Geld zu verdienen. Und als Musikproduzentin wirklich ernst genommen zu werden.
Zwei glücklichste Momente gibt es in Xenias Leben: der erste ist der, als sie Anfang Dezember 2011 nach Berlin kommt. Der zweite, als sie ihre Ehefrau kennenlernt, mit der sie ihr Leben verbringen möchte.
Aufgewachsen ist Xenia in Backnang bei Stuttgart. Dort hatte sie Anfang 2011 ihr offizielles Coming Out: „Backnang ist kein guter Ort für sowas. Ständig musste ich mich rechtfertigen. Für alles, für mich… Der knallrote Lippenstift zu meinen kurzen Haaren war für die Menschen auf der Straße einfach zu viel. Das hielt ich nicht mehr aus!“
Die Verzweiflung wächst. Xenia muss dringend weg aus der Enge – an einen Ort, an dem sie sich nicht mehr verstecken muss: „Holt mich da raus!“, postete sie daraufhin in ihrem Facebook-Account.
Eine Facebook-Freundin, die Xenia nie zuvor persönlich getroffen hatte, bietet ihr an, zu ihr nach Berlin zu kommen. Xenia packt ihre Taschen, leiht sich noch einen Rollkoffer von ihren Eltern – und steigt damit zwei Tage später in den Zug: „Als ich in Berlin ankam und ausstieg, wusste ich, dass ich hier bleiben würde. Diese Stadt war meine wirkliche, innere Heimat…“
In ihrem ersten Jahr in Berlin zieht Xenia fünfmal um. Sie wohnt bei Freunden, in einer WG, alleine. Zusätzlich muss sie vier Monate lang in einem Obdachlosenheim unterkommen: „Ich hatte mich beim Sozialamt vorgestellt. Und sie gebeten, mich in eine Unterkunft zu vermitteln, in der ich als Transfrau keinerlei Probleme haben würde… So kam ich dann in einem 10 qm-Zimmer unter, für mich damals echter Luxus… In dieser Zeit lernte ich richtig gute Menschen kennen. Mein Haus war überhaupt nicht so, wie man sich Obdachlosenheime normalerweise vorstellt…“
Für Xenia ist unser Treffen eine große Herausforderung. Hinter ihr liegt ein Jahr, in dem sie sich keinen sozialen Kontakten ausgesetzt, die Wohnung kaum verlassen hat. Nach ihrer geschlechtsangleichenden OP und dem damit verbundenen Bougieren hatte sie keine Kraft mehr für die ganze Welt da draußen: „Früher, seit meiner Ankunft in Berlin, war ich ein absolut soziales Wesen. Ich brauchte Menschen um mich herum, war gerne in ihrer Gesellschaft. Da möchte ich langsam wieder hinkommen… Es tut mir unendlich weh, diese innere Kraft bislang noch nicht wiedergefunden zu haben… Ich möchte wieder fest im Leben stehen!“
Es gibt sie schon, die hoffnungsvollen, befreienden Momente: „Vor wenigen Monaten war meine Familie bei uns zu Besuch. Meine Ehefrau und ich sind mit meiner kleinen Schwester im Abschnitt zwischen Friedrichstraße und Unter den Linden spazieren gegangen… Plötzlich spürte ich, wie in mir ganz plötzlich etwas aufgeht. Wie schön: Endlich wieder viele Menschen!“
Sehr viel Kraft für ihre Transition bekam Xenia durch ihre Ehefrau: „Sabrina und ich haben uns bei einem Stammtisch für transidente Menschen kennengelernt.“ Da war Sabrina gerade aus einem Dorf bei Regensburg nach Berlin gezogen. Auch sie hatte die Flucht aus dörflicher konservativer Engstirnigkeit in die Großstadt angetreten. Die beiden verliebten sich ineinander – und sind seither ein Paar. Seit Oktober letzten Jahres sind sie auch verheiratet: „Da haben wir den Staat ein wenig ausgetrickst. Als Frau kann ich ja keine Frau heiraten, deshalb haben wir das noch schnell gemacht, bevor Sabrina ihre Vornamens- und Personenstandsänderung durchbekommen hatte!“ Xenia und Sabrina träumen davon, gemeinsam, vorurteils- und diskriminierungsfrei durchs Leben gehen zu können.
Am nächsten Tag sehen Xenia und ich uns noch einmal bei „Transistor“ in Potsdam, einem Stammtisch für Menschen mit transidentem Hintergrund. Sie kommt auf mich zu mit einem Brief in der Hand. Das habe ich nochmal für Dich geschrieben.“ Ihre Worte fassen alles zusammen, was Xenia lebt:
„Ich war mein Leben lang immer auf der Suche nach einem Schlüssel, um mein eigenes inneres Ich endlich zu verstehen. Ich war praktisch am Boden – und keiner konnte es sehen. Infolge dessen traf ich einen folgenschweren Entschluss, packte meine Koffer – und stieg in den Zug. In eine bessere Welt. Heute träume ich von einer Laufbanh als Autorin oder Musikproduzentin, stehe mitten im Leben – und verstecke mich nicht mehr. Weil ich endlich das leben kann, was ich immer war.“
Zurück in Hamburg erreicht mich noch eine Mail von Xenia: „Ich möchte mich auch noch einmal separat bei dir dafür bedanken, Teil deines großartigen Fotoprojektes sein zu können. Das entwickelt in mir selbst jede Menge Stolz – und eigene seelische Wertschätzung, die ich nach meiner langen gesellschaftlichen Auszeit ziemlich dolle brauchen kann. :-)“
Ich danke DIR, liebe Xenia, für Dein Vertrauen. Und danke Euch allen, die Ihr dabei seid, lest, beitragt! Danke!
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