Hamburg im Februar 2015
Für unseren Termin war Marie gestern noch mal beim Friseur.
„Das sah echt gut aus, als ich da rauskam! Beim Friseur haben Sie ja diesen super Fön. Und dann kommst du nachhause zu deinem 10 € Fön und sagst: Haare macht mal wusch! Aber nix wusch!“
Marie ist meine Tochter. Was zeichnet unsere Beziehung aus? Zum Beispiel, dass wir viel miteinander lachen können, auch über Haare, die nicht wusch machen. Über verschmierte Wimperntusche, über zu kleine Schuhe und zu große Handtaschen. Marie ist meine Tochter und wir können über vieles reden. Heute über ihre Geschichte der Transidentität. Ich darf Sie für Max ist Marie porträtieren.
Zum Start des Projektes hatte ich nur wenig von ihr erzählt. Jetzt ist es an der Zeit, auch über sie zu schreiben.
Wir treffen uns in einem Café in Hamburg. Auf „neutralem Boden“. Um so tun zu können, als sei es ein ganz normales Interview. Wir werden auch über Dinge reden, die wir bisher nur im Alltag nebenher abgehandelt haben. „Es ist ja wie es ist.“ Kein Grund in die Tiefe zu gehen.
Marie bestellt einen Cafe Latte mit Sojamilch. Aber Sojamilch gibt es hier nicht. „Ist es nicht unglaublich, dass es tatsächlich noch Cafés gibt in denen man als Veganer keine Möglichkeit hat einen Milchkaffee zu trinken? Ich dachte, das hätte sich langsam rum gesprochen.“
Seit drei Jahren ernährt Marie sich vegan. „Jetzt habe ich einen ganz heftigen Vitaminmangel! Obwohl ich schon alles an Nahrungsergänzungsmittel nehme, was man Veganer nehmen soll. Auch Vitamin D-Bomber hat die Ärztin mir jetzt verschrieben.“
Ganze Pillendöschen könnte Marie füllen mit den Medikamenten, die sie nehmen muss. Seit November 2012 ist sie in Hormonersatztherapie.
„Nach dem Abi wollte ich gerne eine Ausbildung zum Makeup Artist machen. Voraussetzung dafür war eine Friseurlehre.“ Marie fand einen Ausbildungsplatz in einem schönen Salon ganz in der Nähe von zu Hause.
„Schon in der Abi Zeit begann ich mich weiblicher zu kleiden. Bei der Vergabe der Abiturzeugnisse stand ich in hochhackigen Schuhen auf der Bühne. Danach wurde mein Bedürfnis, nicht mehr als Mann auf die Straße zu gehen, immer größer.“
In ihrem ersten Ausbildungsbetrieb hatte man kein Verständnis für Maries „Verkleidungen“. Aus Rücksicht auf die Kundschaft wurde ihr verboten, als Frau aufzutreten. Sie suchte sich einen neuen Salon.
„Hier war vordergründig alles flippiger. Das Publikum war toleranter. Dafür lehnten die allermeisten meiner Kollegen ab, wer ich war.“
Marie wurde gemobbt. In dieser Zeit kam sie abends häufig sehr traurig nach Hause. Die Traurigkeit wuchs sich zu Depressionen aus. Niemanden aus ihrer Umgebung ließ sie spüren wie schlecht es ihr tatsächlich ging. Auch mich nicht.
Es war ihre Hausärztin, die ihr empfahl, einen Therapeuten aufzusuchen. „Plötzlich hatte ich eine Diagnose: Transsexualität. Mit dieser Diagnose vor der Nase musste ich mich auf einmal wirklich mit dem Thema auseinandersetzen. Ich konnte nichts mehr zu Seite schieben und so tun als sei nichts. Darüber reden wollte ich mit niemandem. Auch nicht mit meinem damaligen Freund. Ich wusste ja selber noch nicht, wo das Ziel für mich ist und wollte deshalb auch andere nicht damit belasten.“
Wie viel Stärke muss in einem Menschen stecken, der so etwas mit sich alleine ausmachen kann.
Im April 2012 bekam Marie einen Therapieplatz in der forensischen Psychiatrie der Universitätsklinik. Sie begann klarer zu sehen. Und beantragte die Hormontherapie, die ihr wenige Monate später genehmigt wurde.
„Wäre ich diesen Schritt gegangen, wenn ich gewusst hätte, wie heftig die Depressionen zuschlagen würden? Ich weiß es nicht. In verzweifelten Zeiten kommt es mir so vor, als hätte ich nur die Wahl zwischen Hölle und Hölle.“
In dieser Zeit war Marie abends manchmal in Schwulenbars. Sie freundete sich mit Zaine an, einer international gebuchten Dragqueen. „Drag ist eine echte Kunstform. Das sehen nur die wenigsten.“ Zaine war Australier. „Er erzählte mir häufig, dass es dort ganz normal ist wenn ein Mann als Frau auf die Straße geht. Da guckt keiner blöd.“ In ihrem Alltag in Hamburg erlebt Marie wenig Toleranz.
Im Herbst 2012 verbrachte Marie mit einer Freundin einige Zeit in Amsterdam. „Danach wollte ich dort leben! Da wird man mal eben einfach von den Menschen auf der Straße angelächelt. Das vermisse ich hier in Hamburg wirklich!“
In Amsterdam fand Marie einen Schwulen-Buchladen. Eigentlich war sie auf der Suche nach einem Reiseführer. „Die Buchhändlerin hat mich falsch verstanden und gab mir ein Buch von Kate Bernstein, einer Transfrau. „My gender workbook“. Das war MEIN Buch. Es hat mir in vielem die Augen geöffnet. Auch darüber, wie Geschlecht funktioniert.“
Marie erzählt, wie sie vor kurzem in einem Kaufhaus in der Spielwarenabteilung war: „Da saß ein Mädchen auf einem kleinen Staubsauger, den es unbedingt haben wollte. Sie ging nicht zu der Werkbank die direkt daneben stand. Warum nicht die Werkbank? Es ist wirklich spannend, sich mit solchen Fragen auseinander zusetzen.“
Ich erinnere mich, dass Marie sich, als sie klein war, zu Weihnachten eine Barbie wünschte, die sie auch bekam. Wenige Tage nach Weihnachten wurden der Barbiepuppe die Haare geschnitten. Da sah sie nicht mehr ganz so hübsch aus. War das nun männliches Verhalten oder weibliches?
„Vor seinem Geschlecht kann man nicht weglaufen“, sagt Marie jetzt. „Für Andere muss man eine Rolle spielen, sonst können die einen nicht einordnen.“ Für Marie ist klar, dass die weibliche Rolle für sie besser funktioniert. Deshalb nimmt sie die Hormone. „In einer anderen Welt wäre das vielleicht gar nicht nötig. Da könnte ich mich als Frau fühlen ohne meinen Körper dafür malträtieren zu müssen.“
Am Tisch hinter uns sitzt ein Mann. „Dreh dich mal um,“ sagt sie, „der sieht wirklich gut aus.“ „Ich weiß nicht, ist nicht mein Fall.“ Marie lacht. „Daran, welcher Typ Mann mir gerade gefällt, erkenne ich, wie mein Hormonspiegel gerade ist. Ist doch erniedrigend, wie wir den Hormonen ausgesetzt sind!“
Nach dem Abbruch ihrer Frisörlehre hatte Marie angefangen, Soziologie und Psychologie zu studieren. Aber Hormontherapie und Studium gleichzeitig, das funktioniert nicht. Jetzt hat sie ein Urlaubssemester eingelegt. „Da sind einfach zu viele Themen auf einmal in meinem Kopf. Ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren.“
Wir müssen los, Marie muss heute noch arbeiten. Sie jobbt bei einem Marktforschungsinstitut. „Vor kurzem hatten wir eine Studie, bei der ich Landwirte aus der Umgebung von Mannheim interviewte. Als wir noch in Heidelberg lebten, konnte ich den Dialekt ja überhaupt nicht ertragen. Seitdem wir in Hamburg sind, finde ich den sogar niedlich.“
Durch das winterliche Hamburg schlendern wir am Jungfernstieg entlang Richtung Auto.
Marie sucht etwas in Ihrer Tasche. „Ich mag grosse Taschen! Aber man verliert schon viel Lebenszeit mit ihnen.“ Das kenne ich. Da haben wir wieder ein Mutter-Tochter-Thema.
Es ist merkwürdig: ich kenne Marie auf ihr Handy eintippend. Jetzt läuft sie neben mir her und wir reden miteinander ohne Ablenkung. „Auf Facebook habe ich mich erstmal abgemeldet. Und- ganz wichtig! -ich lebe noch. Jetzt habe ich endlich mal so richtig Zeit zum Lesen! Den Medicus habe ich schon durch. Jetzt kommt der Schaman.“
In den Gruppen transidenter Menschen, in denen sie auf Facebook war, hatte Marie das Gefühl nicht sagen zu dürfen, wie es ihr tatsächlich geht: „Da darf man nicht krank wirken.“
Dabei gibt es ausreichend Gründe, sich auch mal schwach fühlen zu dürfen: „Transidente Menschen müssen so viel kämpfen! Ich finde, wir sind heute Rechte-mäßig auf dem Level angekommen, auf dem sich Schwule und Lesben in den neunziger Jahren befanden. Nicht einmal auf den Christopher-Street-Days sind transidente und intersexuelle Menschen ordentlich vertreten.“
Noch schlimmer sieht es mit der rechtlichen Lage aus. Das Transsexuellengesetz, das Anfang der 80er verabschiedet wurde, ist in vielen Teilen als verfassungswidrig erklärt worden. „Wir befinden uns in einer Grauzone. Seit Jahren wird angemahnt, dass ein neues Gesetz her muss. Das Thema wird regelmäßig auf die Tagesordnung gesetzt. Und zwar so weit hinten, dass nie Zeit bleibt, darüber zu diskutieren.“ Wann passiert endlich einmal etwas?
Was ist dein größter Wunsch, Marie? „Gesund zu sein! Ich weiß nicht, wie sich das für mich definiert: „Gesundheit“! Aber ich wünsche mir, mich nicht mehr ständig mit meinem Körper beschäftigen zu müssen.“
Sei stark wenn du stark bist, sei schwach wenn du schwach bist, zwinge dich zu nichts und gehe deinen ganz eigenen Weg. Du wirst ihn finden.
Liebe Grüße, Denise
Hey Marie,
alle Gute für dich, – und, deine Gedanken sind nahe bei mir. „Nicht mehr mit dem Körper beschäftigen müssen“. „Wie funktioniert Geschlecht“ und warum ?. Einfach nur „gesund sein wollen. Ich hatte 10 Jahre für den zweiten Schritt gebraucht, für den ersten fast 30: Fragen und Zweifel zulassen. Die Fragen wurden mehr in all den Jahren und das Leben auf eine neue Art kompliziert; aber auch spannend und voller Zukunft. „Ich schau nach vorn“. JA! Liebste Grüße, Ronja
Schön das es EUCH gibt!
Gut gekämpft, Löwin!
Küsschen
Papa