„Hast du denn noch Termine frei während Deiner Zeit in Berlin? Wenn ja, wäre ich gerne dabei.“ Jenny sitzt mir beim Transistortreff, einem Stammtisch in Potsdam für Menschen mit transidentem Hintergrund, gegenüber. Blondes, schulterlanges Haar, eine Brille, die ihr Gesicht schön rahmt.
„Warte, wenn Du jetzt anfängst zu fotografieren, muss die Brille weg! Kein Foto mit Brille!“, protestiert sie, als wir uns am nächsten Tag in Berlin Mitte treffen und ich zu meiner Kamera greife. Schnell die Kontaktlinsen eingesetzt. „…die durfte ich wegen einer schweren Entzündung ein Jahr nicht tragen, aber da ich mich ohne Brille wohler fühle, setze ich die Kontaktlinsen von Zeit zu Zeit ein. Als ich anfing, Fotos mit und ohne Brille auf Facebook parallel zu posten, bekam ich mehr tolle Kommentare und größere Zustimmung auf Fotos ohne Brille. Im Alltag sieht es wiederum anders aus – ich ernte viele nette Komplimente, weil mir die Brille so gut steht! Sei’s drum, ich fühle mich eben ohne dieses Sehgerät wohler.“
Leider haben wir nicht viel Zeit, aber Jenny hat sich bereit erklärt sich vor einem anderen Termin mit mir in Berlin Mitte zutreffen. „Um 17 Uhr möchte ich beim Kochtreff in Berlin Kreuzberg sein.“ Die Kochgruppe ist eine Veranstaltung von Queerleben Berlin für „Betroffene mit transidentischem Hintergrund“, die dort in Betreuung sind. „Ich habe zwar keine Betreuung, aber da ich eine Betroffene aus dieser Gruppe kenne, darf ich von Zeit zu Zeit beim Treffen mitmachen. Zu Beginn werden Menüvorschläge gesammelt und die Gruppenteilnehmer stimmen per Handzeichen über das Wunschmenü ab. Ein kleiner Teil der Gruppe marschiert los zu den nahegelegen Supermärkten auf der anderen Seite des Landwehrkanals. Wenn die Zutaten besorgt sind, machen sich alle Teilnehmer an die Zubereitung des Gerichts. Da es immer Salat als Beilage gibt, muss viel gewaschen und geschnitten werden. Nebenher wird gekocht, gebraten oder gebacken und der Tisch gedeckt. Dann folgt der Höhepunkt des Abends – Essen und Reden.“
Jennifer spricht mit einem schönen gerollten R. „Ich bin nicht von hier. Ich bin Fränkin, aufgewachsen in Herzogenaurach. Das liegt im Landkreis Erlangen-Höchstadt im schönen Mittelfranken. Ich mag diese Gegend sehr und fühle mich dort Zuhause. Jennifer bezeichnet sich selber gerne als „Nermbercherin“.
„Übrigens ging meine Tante mit Lothar Matthäus in eine Klasse!“
Leider ist die Gegend, die Jennifer so sehr am Herzen liegt, zu engstirnig und klein für eine Trans-Geschichte. „Bei meiner Jobsuche nach meinem Studium bin ich nach vielen Hürden irgendwann in Potsdam gelandet. Hier und natürlich in Berlin ist alles viel offener und es gibt eine schöne Transgemeinschaft.“
Jenny hat Chemie studiert: „Als ich gegen Ende der 8. Klasse auf dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasium in Herzogenaurach war, musste die Entscheidung für das neue Fach in der 9. Klasse her. Zur Auswahl stand eine dritte Fremdsprache oder Chemie. Unter „Chemie“ konnte ich mir zu dieser Zeit nichts Konkretes vorstellen, aber irgendwie klang das interessant. Ich war von Anfang an fasziniert von der Formelsprache und davon, wie es möglich ist, aus zwei völlig verschiedenen Stoffen einen dritten, wiederum völlig neuen Stoff zu erzeugen. Ich besorgte mir Chemiebücher und setzte mich zuhause viele Nachmitage und Wochenenden hin und lernte quasi alles auswendig. Schnell war mein Wissen weit über den Stoff der Schule hinaus gewachsen. Leider war ich in den anderen Lernfächern nicht gut genug und musste tatsächlich von der Schule abgehen. Da ich unbedingt Chemie studieren wollte, musste ich mein Abitur nachholen. Der Bildungsweg führte über die Fachoberschule Erlangen an die Fachhochschule Nürnberg. Dort bekam ich die Zulassungsberechtigung für das Chemiestudium an der Universität in Erlangen.“
In ihrer Jugend ist Jennifer gerne in den Wäldern am Stadtrand unterwegs. Sie ist einsam, hat kaum Freunde. Als Jennifers Mutter einen Hund bekommt, geht sie stundenlang mit ihm Gassi. Nun war Jenny nicht mehr alleine unterwegs.
Auch nachts treibt es sie nach Draußen: In manchen Nächten befreit sie sich aus der „männlichen Rolle“ und geht als Frau gekleidet spazieren. Am Waldrand angekommen tauscht sie ihre Männerschuhe gegen Pumps oder Ballerinas, die sie im Rucksack dabei hat. „Es war ein Gefühl der Befreiung, wenn auch nur für den Augenblick.“
Den eigentlichen Hintergrund ihres weiblichen Fühlens kann Jennifer nicht deuten, sie fühlt sich pervers und hat Angst davor, „noch mehr verachtet und gehänselt zu werden“.
Erst Anfang 2012 sucht Jennifer die Selbsthilfegruppe für Transidente Menschen in Nürnberg auf. Ihr Kennenlernen der Gruppe schildert Jennifer etwas ungläubig: „Ich kam als Frau geschminkt und gekleidet. Als ich im Raum stand, erkannte ich überhaupt nicht, dass ich mich tatsächlich in einer Gruppe transidenter Menschen befand.“ Jennifer war mit einer Menge Klischees über transidente Menschen behaftet, hatte sich alles schriller vorgestellt. „Und nun saßen da ganz normale Menschen.“
In der Gruppe trifft Jennifer auf viele Transfrauen und Transmänner, die beinahe alle in der gefühlten Geschlechterrolle angekommen sind. „Genauso dachten wohl viele der Teilnehmer, dass ich auch schon mit dem kompletten Weg durch sei und nur mal wieder zu Besuch vorbeischaue.“ Jenny bekommt viele Tipps und Kontaktdaten von Ärzten und hört zum ersten Mal sehr konkret, welcher Weg ihr bevorsteht.
Endlich weiß Jenny genau, was mit ihr los ist. Sie ist nicht alleine mit ihrer Problematik und keinesfalls pervers. Es gibt sogar eine Lösung und medizinische Erklärungen für alle ihre Fragen. „Ich musste mich nicht mehr schämen, für das was ich bin – nämlich eine Frau namens Jennifer.“
Jennifer beantragt die Vornamens- und Personenstandsänderung beim Amtsgericht. Nach vier Monaten ist das Verfahren durch und ihre Geburtsurkunde berichtigt. Jennifer trägt nun offiziell den Namen, den ihr ihre Mutter als Mädchen hätte geben wollen. „Somit erfüllte ich meiner Mutter quasi einen damals nicht erfüllten Wunsch.“
Als Mann hat es Jenny nicht wirklich gegeben. Wo immer möglich, hat sie alles ausgelöscht, was mit dieser falschen Vergangenheit zu tun hat. „Mein Arbeitszeugnis aus meinem ersten Job habe ich sofort umschreiben lassen. Da kommt jetzt nur noch Jennifer und das weibliche Personalpronomen vor. Meine Mutter nennt mich zwar versehentlich immer noch bei meinem männlichen Namen, aber auch sie wird das irgendwann verarbeitet haben.“ Jenny lebt ihr Leben seit Mitte 2012 komplett neu.
In Potsdam hatte Jennifer bis vor kurzem einen Job als wissenschafltiche Mitarbeiterin. Als sie von anderer Stelle das Angebot bekommt, parallel bei dem Projekt „Trans in Arbeit“ mitzuarbeiten, möchte sie unbedingt dabei sein. Ihr Arbeitgeber aber untersagt ihr eine Mitarbeit, mit dem Argument, die zeitliche Belastung sei zu hoch und es wäre besser, wenn sie sich nicht derart in der Öffentlichkeit darstelle.
Ein paar Monate später bekommt Jenny ihre Kündigung. „Die müssen doch da schon gewusst haben, dass meine Kündigung ansteht. Warum haben sie mir nicht einfach die Mitarbeit an dem neuen Projekt genehmigt?!“
Jetzt weiß Jenny nicht, wie es weitergehen soll. „Statt eine interessante Arbeit zu haben, vergeude ich meine Energie im Streit mit der Krankenkasse. Dabei möchte ich einfach wieder leben.“
Dennoch: Jenny gestaltet sich ihr Leben. „Meine große Leidenschaft ist die Fotografie. Das hat fast schon suchtartige Züge angenommen. Ich liebe es, Parkanlagen und Städte zu fotografieren.“
In Berlin hat Jennifer „schon fast jede Ecke fotografiert“. Jetzt ist sie in anderen deutschen Großstädten unterwegs. Letztes Wochenende war sie mit einer Bekannten in Köln unterwegs. „Auch Hamburg habe ich schon abgegrast, da fehlt mir nur noch Planten un Blomen.“
Jennifer mag es in der Natur unterwegs zu sein, Land und Leute und deren Kultur und Dialekte kennenzulernen: „Besonders Bundesländer die ich nie zu Gesicht bekommen habe, da ich nur in Bayern zuhause war. Ich besuche die Sehenswürdigkeiten der Städte und und fotografiere auch Türme, Mauern, Häfen, Brücken, Flüsse, Kanäle, Seen, Inseln, Berge, Wälder, Pflanzen und Blumen….“
Auch mehrere Städte an einem Tag sind nach vorausgehender guter Planung möglich: Morgens um drei Uhr aufstehen. Die Marschroute minutiös ausarbeiten, in den Zug steigen, gegebenenfalls mehrmals umsteigen. „An manchen Tagen habe ich vier Städte abgearbeitet. Wenn die eine Etappe erledigt ist und ich im Zug zur nächsten Stadt sitze, studiere ich den Stadtplan nochmal ganz genau, lerne ihn quasi auswendig, dann bin ich schneller unterwegs.“
Sobald sie alle deutschen Großstädte abgearbeitet hat, soll eine Tour durch den Rest Europas folgen. „So kompensiere ich meine Reiselust, die in meiner Kindheit und Jugend nicht gestillt werden konnte.
Wenn sie nicht unterwegs ist, trifft Jenny Freunde, macht Radtouren – oder sie schreibt an ihrem Chemiebuch. Schon über 1000 Seiten umfasst ihre Arbeit. „Ich möchte ein umfassendes Hilfswerk schreiben, quasi das Buch das ich in der Bibliothek nie gefunden habe. Zuhause halte ich es alleine nicht aus. Ich besuche daher häufig Freunde und Bekannte und freue mich neue, nette Persönlichkeiten kennenzulernen “
Wir schlendern zur nahegelegenen „Zionskirche“ Ich mache ein Bild von Jennifer. „Ist meine Nase so jetzt gut drauf? Die mag ich nämlich überhaupt nicht. Also, schau mal, so von der Seite ist die ja ok, aber von vorne….. Ich habe zwecks OP-Vorgespräch schon einen Termin beim HNO-Arzt in Stuttgart. Da kann ich dann auch gleich die Stadt fotografieren.“
Manchmal steht Jenny auch vor der Kamera. So wie heute. Oder vor wenigen Wochen in Hamburg für das Berliner Modelabel Baal, das Mode für transidente Frauen entwirft. „Da wurden wir nicht nur fotografiert, sondern auch auf dem Laufsteg gefilmt. Der Auftritt hat mir Selbstvertrauen gegeben. Dabei ich habe mal wieder ein Kleid getragen, das mache ich sonst eigentlich nie. Ich finde mich in Kleidern überhaupt nicht attraktiv und bin eher die Jeansträgerin.“
Danke, Jenny, dass Du Dir die Zeit genommen hast und Teil von „Max ist Marie“ bist.