Hamburg, im Dezember 2014
Wir treffen uns in Hamburg. Benjamin ist mit der Bahn aus Osnabrück gekommen, um sich von mir für „Max ist Marie“ porträtieren zu lassen. „Mit dem Semesterticket kein Problem. Da ist die Fahrt nach Hamburg inklusive. Außerdem fahre ich gerne Zug. Hier kann ich in Ruhe lesen.“
„Die Tribute von Panem – Tödliche Spiele“ hat er heute in seiner Tasche. Während wir über die Mönckebergstrasse gehen unterhalten wir uns über Bücher, die große Freude des Lesens. Harry Potter! „Im März 2014 war ich mit meiner Ex-Freundin für drei Tage in London – vor allem, um die Warner Bros. Studio Tour zu machen, wo man sich die ganzen Sets und teilweise Original-Drehorte anschauen kann. Weil wir beide riesige HP-Fans sind, wollten wir uns das unbedingt zusammen anschauen. Das war wirklich sehr beeindruckend!“
Es ist kurz vor Weihnachten. Ein kalter Hamburger Wind fegt durch die Fußgängerzone. Alles so schön weihnachtlich.
„Ich liebe Weihnachten! Diese ganze Schmückerei, der Glanz. Weihnachten mit der Familie feiern, schön essen! In meiner WG hab ich auch geschmückt. Meine beiden Mitbewohner meinten, das sah noch nie so schön aus. Dabei habe ich nur Tischdecken aufgelegt und Lichterketten aufgehängt.“ Benjamin strahlt.
In einer WG zu wohnen hatte Benjamin sich eigentlich nie vorstellen können. „Ich konnte ja gar nicht offen sein für andere Menschen, solange ich mich selber noch nicht gefunden hatte.“
Zum Aufwärmen setzen wir uns in ein Café im Levantehaus.
Vor etwa fünf Jahren war Benjamin zum ersten Mal mit dem Thema Transidentität in Berührung gekommen. Damals sah er einen Bericht im Fernsehen. „Das war eine von diesen reißerischen Sendungen. Mein erster Gedanke war sofort: So will ich nicht sein!“ Die Erkenntnis aber, dass er sein biologischer Körper nicht mit seinem Geschlechtsempfinden übereinstimmte, ließ Benjamin von da an nicht mehr los.
Vor zwei Jahren begann Benjamin mit seiner Testosteron-Behandlung. Da war er 24.
„Als ich 16 war, hatte ich mit einer Therapie begonnen, weil ich unter schweren Depressionen litt.“ „Darf ich das schreiben, Benjamin?“ „Ja, darfst Du. Ich bin zwar nicht stolz darauf, aber es zeigt, dass ich das irgendwie überwinden konnte und es mich stärker gemacht hat.“
Benjamin erzählt weiter von seinem Weg in die Depression:
„Ich war immer so uneins mit mir. Schon in meiner Kindheit wurde ich ausgegrenzt. Kinder sind ja sehr feinfühlig und merken, wenn jemand anders ist. Ich habe nie irgendwo dazugehört und konnte mir überhaupt nicht erklären, woran das lag.“
Nach der zwölften Klasse war es so schlimm, dass Benjamin von der Schule abgehen musste. „Ich schaffte das einfach alles nicht mehr. Mir ging es immer schlechter. Und auch meine Noten wurden immer schlimmer.“
Um den Kopf frei zu bekommen, ging Benjamin für ein Jahrespraktikum in ein Altenheim. „Da war ich umgeben von erwachsenen Menschen! Das passte einfach besser zu mir. Ich glaube, ich war schon sehr früh nicht mehr jung.“
In diesem einen Jahr lernte Benjamin sehr viel über sich selbst. Er holte sein Abitur nach und schloss mit 1,9 ab. Das war im Dezember 2011.
„Damals nahm ich zwar noch keine Hormone, aber ich fing schon an mich äußerlich zu verändern. Die Menschen am Kolleg waren einfach klasse! Alle sehr unterschiedlich. Und sehr offen. Da stellte niemand irgendwelche komischen Fragen.“
Wer Benjamin heute trifft, sieht nichts davon, dass er bis vor kurzem noch – zumindest äußerlich – dem weiblichen Geschlecht zugeordnet wurde. „Meine Haare habe ich, bis ich 18 war immer lang getragen und nicht zwingend mit Männlichkeit oder Weiblichkeit verbunden, die waren daher überhaupt kein Problem für mich. Mein Papa hat bis heute lange Haare: es war super, dass meine Eltern mir vorgelebt haben, dass man nicht klischeemäßig aussehen muss.“
Von seinen Eltern bekam Benjamin sehr viel Unterstützung und Verständnis während seiner Transition. „Die waren echt super. Nur meine Mama hatte ein wenig Probleme mit dem richtigen Personalpronomen. Es war immer ein wenig peinlich, wenn sie mich beim Einkaufen als Mädchen ansprach, obwohl ich doch schon als Mann unterwegs war.“ Benjamin lächelt in sich hinein.
Nach dem nachgeholten Abitur fing Benjamin an zu studieren. Zunächst schrieb er sich für Sozialwissenschaften ein.
„Das war aber eher pro forma.“ Genau zu der Zeit nämlich begann Benjamin Testosteron zu nehmen. „Da konnte ich mich sowieso überhaupt nicht konzentrieren.“ Im letzten Wintersemester war Benjamin so weit, dass er in das echte Studentenleben starten konnte. Jetzt studiert er Philosophie und Erziehungswissenschaften.
„Philosophie hat mich schon während der Schulzeit interessiert. Ich brauche immer Futter für meinen Kopf. Wir haben eine Dozentin an der Uni, aus deren Vorlesungen gehe ich immer erfüllt raus und nehme ganz viel mit zum Nachdenken. Es ist toll, wie manche Menschen das schaffen.“
Wir reden über verschiedene philosophische Ansätze. „Mit Kant verbindet mich eine Hassliebe. Der hat große ethische Ansätze, die ich ganz wunderbar finde. Aber er ist schlimm zu lesen.“
Benjamin erzählt von seinem Leben als Student, davon, wie wichtig es ihm ist, sich in der Fachschaft zu engagieren. Im September fuhr er zusammen mit anderen Studenten für drei Tage nach Berlin, um mit einem Vertreter des Ethikrates das Thema „assistierten Suizid“ zu diskutieren. Im Oktober organisierte mit seiner Fachschaft die Party für die Erstsemester. „Ich möchte meinem Institut etwas zurückgeben“, sagt er.
Die Bologna-Reform hält Benjamin für einen Fehler. Seither muss alles im Studium schnell gehen. „Man hat keine Zeit mehr, sich mit den Dingen wirklich auseinanderzusetzen. Aber welche Wahl haben wir schon…?“
Zeit für Nebenjobs gibt es eigentlich auch nicht mehr. Benjamin arbeitet dennoch als wissenschaftliche Hilfskraft im Gleichstellungsbüro der Uni. Hier erstellt er zusammen mit seinen Kolleginnen Konzepte für gender- und familienbezogene Veranstaltungen.
Auch in der Gemeinschaft der transidenten Menschen engagiert Benni sich. Er hat einen eigenen Channel auf Youtube für transidente Männer. Er nennt ihn Benjamins Reise
Ein wenig fragt man sich schon, wann Benjamin das alles macht. Immerhin ist da noch die Sache mit dem Bafög. Das gibt es nur, wenn man das Studium in einem durchzieht, ohne Abweichungen oder Pausen. Auch nicht in Härtefällen.
„Ich habe eine Freundin, die mitten im Studium Krebs bekam und aussetzen musste. Ihr haben sie eine Verlängerung des Bafögs verweigert. Da brauche ich erst gar nicht hoffen. Ich bin ja nur transident.“
Die Freundin, von der Benjamin erzählt, ist seine engste Vertraute an der Uni. „Es gibt nur einen Menschen, den ich nach meiner Transition kennengelernt habe, der von meiner Vergangenheit weiß. Und das ist sie.“ Bei seinen Kommilitonen ist Benjamin noch unsicher. Er denkt viel darüber nach, ob es gut wäre, wenn er sich outen würde. Auf der einen Seite möchte er kein Geheimnis daraus machen. Auf der andern Seite hat er doch Angst vor diesem Schritt: „Ich denke darüber nach. Im Philosophiestudium gibt es viele Leute, die schon etwas erlebt haben. Die hätten bestimmt kein Problem damit. Aber selbst wenn es für sie keine Sache ist, ist es doch für mich eine. Danach gibt es kein Zurück mehr.“
Uns ist wieder warm. Wir laufen weiter. Wenn Benjamin schon einmal hier ist, wollen wir auch noch ein wenig durch Hamburg schlendern. Dick eingepackt gehen wir durch die weihnachtliche Innenstadt.
Benjamin tut es gut, unerkannt zu leben. „So bin ich einer unter vielen.“
„Mir ist es zwar wichtig, mein Leben quasi „unbehelligt“ zu führen, aber andererseits möchte ich auch dabei helfen, das Bild, das die Öffentlichkeit von trans* hat, positiver und realistischer zu gestalten und ich denke, dein Projekt ist dafür genau richtig – Ich will was bewegen, aber dafür muss ich mir sicher sein, dass ich verstanden werde und das Gefühl habe ich bei „Max ist Marie““, hatte Benjamin mir in seiner ersten Mail geschrieben.
Benjamin sagt Sätze wie: „Wir sind ganz normale Menschen, die ein Päckchen zu tragen haben. Aber das haben doch alle irgendwie.“ und „Wie nur soll man das Bild, das die Gesellschaft von uns hat, korrigieren?“ Nach all den Sendungen auf RTL, den Berichten in der Bildzeitung.
“Die Medien setzen Begriffe in die Welt wie „Geschlechtsumwandlung“. Das prägt das Bild, das die Öffentlichkeit von uns hat. Es wird Jahre dauern, bis das wieder in Ordnung kommt. Ich verstehe es absolut, wenn jemand, der sich mit dem Thema nie befasst hat, nichts damit anfangen kann. Sogar Freunde, die ich schon lange kenne, können sich das überhaupt nicht vorstellen.“
Dennoch: Benjamin durfte auf seinem Weg viel Offenheit bei den Menschen erfahren, die ihm wichtig waren.
Aufgewachsen ist er in einem kleinen Dorf in der Nähe von Osnabrück. Dort hat er jahrelang Fussball in einer Mannschaft gespielt. „Fussball war das Größte für mich. Dabei konnte ich alles vergessen“, sagt Benjamin.
Mit 16 musste er aus der Jugendmannschaft in die Damenmannschaft wechseln. Benjamin hatte dann schließlich vor zwei Jahren keine andere Möglichkeit mehr als sich zu outen und aufzuhören, aktiv zu spielen. „Alle haben mich unterstützt. Das war wirklich irre. Und das auf dem Land! In dem Ausmaß hatte ich das gar nicht erwartet.“ Danach arbeitete Benjamin noch ein halbes Jahr als Co-Trainer in seinem Verein.
Wir stehen auf dem Weihnachtsmarkt am Jungfernstieg.
„Es ist schon verrückt, wie viel sich innerhalb eines halben Jahres ändern kann. Bis vor kurzem hatte ich noch eine Freundin, jetzt plötzlich nicht mehr. Ich hatte immer geglaubt, in unserer Beziehung sei alles in Ordnung. Und plötzlich war sie weg. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass wir Probleme hatten und sie hat nicht mit mir darüber geredet.“ Benjamin ist zum ersten Mal Single-Mann. „Jetzt bekomme ich mit, wie andere Männer einfach Frauen abschleppen können. Das würde ich ja gar nicht wollen. Aber dass bei mir alles so wahnsinnig kompliziert ist, das empfinde ich schon als sehr ungerecht. Allein schon die Frage: Wann ist der richtige Zeitpunkt, um dem Mädchen meine Geschichte zu erzählen?“ ist quälend.
Seine Zukunfts-Pläne macht Benjamin erst einmal an Orten fest: „Osnabrück ist eine super Studentenstadt. Aber für immer werde ich nicht dort bleiben. Irgendwann möchte ich vielleicht mal nach Schweden. Und vielleicht komme ich dann auch irgendwann wieder zurück um an der Uni zu arbeiten.“
Wir sind am Bahnhof angekommen, Benjamin fährt zurück nach Osnabrück. „Solche Ausflüge sollte ich wirklich öfter machen und das Semesterticket viel mehr nutzen. Einfach mal einen Tag mit Freunden in Hamburg verbringen, vielleicht im Frühjahr, wenn es nicht so kalt ist.“
Bis bald, Benjamin.
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