Der folgende Text ist ein Liebesbrief an meine Tochter, die als mein Sohn geboren wurde.
Anlässlich des Transgender Days 2025 wurde er als Tagesimpuls auf der Plattform Homodea von Veit & Andrea Lindau veröffentlicht.
DANKE für euren unermüdlichen Einsatz für intelligente Gerechtigkeit.
Für meine Tochter Marie
Die Menschen, die wir lieben: wir wollen sie beschützen.
Alles Leid von ihnen fern halten.
Vor anderen retten, wenn sie es mal nicht so gut mit ihnen meinen.
Wir tun alles dafür und noch viel mehr. Und dann… kommt der Moment, in dem wir erkennen: es geht nicht. Diese Macht haben wir nicht.
Als mein erstes Kind geboren wurde, glaubte ich noch daran.
2980 Gramm kleiner Mensch in meinen Armen. „Ich passe immer auf dich auf.“
Mein kleiner Sohn, Hand in Hand gingen wir durch die kleine und große Welt.
Irgendwann musste ich deine Hand loslassen, damit du wachsen konntest.
Und aus dir wurde eine wunderschöne junge Frau.
Ich hatte nie ein Bild von dir, was du mal machen solltest, was du werden solltest oder wie. Alles, was ich für dich wollte, war, dass du glücklich bist in deinem Leben. Viele Jahre lang warst du es. Fröhlich, laut und ungezähmt.
Dann kam die Pubertät und deine Fröhlichkeit wurde immer kleiner. Viel zu lange merkte ich nichts von deinen inneren Kämpfen.
Du musstest sie geheim halten, zunächst auch vor dir.
Zu groß war das Thema, das darunter lag.
Als du es endlich aussprechen konntest, waren wir an deiner Seite. Doch beschützen konnte ich dich nicht.
Wie sollte ich auch verhindern, dass Menschen dich mit ihren Blicken auseinander nahmen, wenn du, äußerlich noch Junge, in Frauenkleidung auf die Strasse gingst.
Wie hätte ich verhindern sollen, dass eine angetrunkene Männertruppe im Restaurant laut lachte, als sie an unseren Tisch schaute.
Auf dich, mein Kind. Ja, ich stand auf, ja, ich fragte sie, was ihr Problem sei.
Doch da war es schon zu spät. Der Schmerz in dir war schon gepflanzt.
Heute weiß ich: Vielen Menschen macht „Anderssein“ Angst. Sie brauchen Schubladen, um sich sicher zu fühlen.
Unsere Gesellschaft ist verstrickt in Normalopathie.
Ein Teil von mir kann das verstehen. Ein anderer Teil wütet.
Mein Kind in einer viel zu engen Schublade.
In dieser Enge legten sich Angst, Panikattacken, depressive Schübe auf dich.
Und wieder war ich an deiner Seite. Und wieder konnte ich dich nicht beschützen.
Doch wir haben nie aufgehört, gemeinsam das kostbare Leben zu erkunden, in die Natur zu gehen, zu den Tieren.
Du bist nicht das Thema Transgender. Du bist DU.
Marie. Meine Tochter. Mein Kind.
Fast 20 Jahre später bist du verliebt und verheiratet, Katzenmama, beruflich erfolgreich.
Egal, welches Thema ich bei dir einbringe, du weißt alles darüber. Ich glaube, es war auch deine sprudelnde Neugier, die dich gerettet hat.
Es ist, als lebe in dir ein „Leben, zeig mir, wie reich du sein kannst.“

Seit einiger Zeit wirst du wieder sorgenvoller.
Vor ein paar Wochen schicktest du mir einen Link zu einem Artikel, in dem darüber berichtet wurde, wie in den USA Trump und Musk heimlich still und leise gegen transidente Menschen vorgehen.
Offiziell gibt es sie nicht mehr. Ihnen wird die Existenzberechtigung abgesprochen.
Trump verkündet: “Wokeness is trouble. Wokeness is gone.”, während Elon Musk seine „Anti-Empathy-Revolution“ startet.
Empathie sei unser Untergang …
Und auch bei uns in Deutschland, die wir so fortschrittlich zu sein glaubten, dreht sich das Rad rückwärts.
Menschen, die nicht dem von anderen als „normal“ definierten Äußeren entsprechen, trauen sich nicht mehr, im Stadtpark spazieren zu gehen.
Manchmal spüre ich wieder die tiefe Ohnmacht von damals.
Was können wir tun?
Wie können wir einstehen für die Rechte von Menschen, die sich niemals ausgesucht haben, im falschen Geschlecht geboren worden zu sein?
Die viel Leid erfahren, die so viel gekämpft haben und die jetzt erleben müssen, wie die Rechte, die sie errungen haben und die doch selbstverständlich sein sollten, wieder verloren gehen.
Ich streife die Ohnmacht ab:
Wir können dem, was da geschieht, alles entgegensetzen, was wir sind und sein können. Wir können wach bleiben, woke bleiben, und noch empathischer werden.
Wir können das. Und wenn wir es mal vergessen haben, können wir uns gegenseitig erinnern:
Vor dir steht ein Mensch.
Deine Kathrin
Kathrin Stahl ist Mutter von drei erwachsenen Kindern. Mit ihrem Mann und ihren Tieren lebt und wirkt sie in Hamburg und in Portugal. Gemeinsam mit den Pferden begleitet sie als integrale, traumasensible Life Coach Menschen, die sich nach mehr Leben in ihrem Leben sehnen.
Du findest sie hier: https://coaching.kathrinstahl.com